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Musik, Glück und Goldfische

Musik macht glücklich. Das ist belegt. Doch nicht unbedingt die Musiker:innen, die sie spielen. Woran liegt das? und wie liesse es sich ändern? Eine Spurensuche.

 

Ein Konzert, an dem alle im Saal jedes Wort mitsingen, Tränen der Rührung auf roten Wangen. Ein Lieblingsalbum, genossen im bequemsten Sessel im geliebten Zuhause, die Augen geschlossen. Oder ein Auftritt mit der eigenen Band, die abhebt und fliegt, als gäbe es kein Morgen, Schweiss auf Kabeln, Tasten, Hebeln – was Schöneres gibt es als Mensch zu erleben? Im Ernst! Da steht die Zeit still, und das Hamsterrad auch.

 

Dass solche Momente glücklich machen, bestätigt auch die Wissenschaft. Musik kann helfen, negative Emotionen zu verarbeiten, das ergab zum Beispiel eine 2021 publizierte Studie, für die Spanier:innen unterschiedlichen Alters zu ihren musikalischen Hörgewohnheiten während des ersten Pandemie-Lockdowns befragt wurden. Rund drei Viertel der Befragten gaben an, die Musik gezielt als Ressource genutzt zu haben, um Gefühle der Isolation und der Einsamkeit zu lindern. Ganz besonders traf dies auf Menschen mittleren und höheren Alters zu. 

 

Das Hören der liebsten Musik kann die Ausschüttung von Dopamin fördern, einem Neurotransmitter, der mit Wohlbefinden und Glück assoziiert wird. Gemeinsames Musikhören oder Musizieren stärkt soziale Bindungen und das Gefühl von Zusammengehörigkeit. Auch die Wirkung von Musiktherapie ist wissenschaftlich belegt: Teilnehmende mit Depressionen und Angststörungen berichten, sich nach musiktherapeutischen Sitzungen glücklicher und zufriedener zu fühlen. 

 

Ausbrennen gehört dazu

Und doch gibt es den Club 27 – Musiker:innen wie Jimi Hendrix, Kurt Cobain, Amy Winehouse, Kim Jonghyun,, die an psychischen Krankheiten und unter dem Druck, den die Gesellschaft ihnen auferlegte, litten und viel zu jung starben. Salopp ausgedrückt: Ihre Musik machte andere glücklich, aber ihnen sie selbst. 

So erlebte es auch der Spoken-Word- und Sound-Artist Lukasz Polowczyk. Mit Mitte 30 befand er sich auf dem Höhepunkt seiner musikalischen Karriere. Er war ständig unterwegs, wusste oft nicht, in welcher Stadt, in welchem Club er sich befand, direkt nach dem Gig steig er ins Flugzeug, kurz nach der Landung stand das nächste Set an, und danach kam bereits wieder London, Wien oder Lissabon. Polowczyk war sowohl auf, als auch hinter der Bühne ständig umgeben von Menschen, die ihn lächelnd umringten, die ihn hochleben liessen, die ihn nicht daran hinderten, immer wieder zur Flasche zu greifen, denn ums Feiern ging es ja, und auch ums Ausbrennen, ums Auskotzen, irgendwie. 

 

«Ich habe zu wenig geschlafen, hatte keinen Alltag, habe ungesund gegessen“, sagt Lukasz Polowczyk. «Niemand wusste, wie es mir ging, weil niemand fragte. Man sprach nicht über die psychische Gesundheit. Ich bin sicher, es ging vielen anderen Musiker:innen gleich wie mir.» Seine sozialen Ängste nahmen zu, die depressiven Gedanken auch. Schliesslich realisierte er: Wenn es das ist, was Erfolg bedeutet, dann bringt er mich um. Polowczyk riss das Ruder herum und beendete die Tour, die er gerade spielte, abrupt. 

 

Goldfische im Haifischbecken

Zahlreiche Musiker:innen sagten in den vergangenen Jahren Tourneen wegen psychischer Schwierigkeiten oder Krankheiten ab. Der Jazzpianist Aaron Parks gehört dazu, die Sängerin und Songwriterin Arlo Parks oder der Pop-Superstar Lewis Capaldi. Auch der Schweizer Musiker Dino Brandão erzählt in Songs und Interviews offen von seiner Zeit in einer psychiatrischen Klinik. 

 

 (Eine These ist das ja eigentlich nicht mehr, sondern common sense …) Damit reihen sie sich ein in eine allgemeine Entwicklung in der westlichen Welt. Die Sängerin und Mentalcoachin Zita Zimmermann aus Zürich sagt: «Das Tabu psychischer Schwierigkeiten bricht auf, aber die Veränderung ist zäh und langsam.» Seit Jahren unterstützt sie Musiker:innen bei Herausforderungen des Alltags, während der Pandemie bot sie kostenlose Anti-Angst-Kurse an. Sie ist überzeugt, dass manals Künstler:in  gar besonders resilient sein müsse:. «Man muss ein Goldfisch im Haifischbecken sein – feinfühlig genug, um die Musik in sich hineinzulassen, und doch auch stark genug, um dem Druck von aussen standzuhalten.» 

 

Häufige Themen in ihrer Praxis seien Ängste und Zweifel, der Umgang mit Kritik oder Kränkungen im Studium: «Bühnenarbeit kann eine sehr einsame Sache sein». Zimmermann möchte ihren Klient:innen vermitteln, dass die Bühne keine Kampfarena sein müsse, in der man sowohl gegen sich selber, gegen innere Glaubenssätze als auch gegen die Konkurrenz antrete. «Viele merken bei mir zum ersten Mal, dass sie nicht allein sind, und spüren eine grosse Erleichterung.» Ihr Ziel sei es, bei ihren Klient:innen ein Vertrauen in die eigene Stärke zu wecken, damit sie sich im entscheidenden Moment nicht ausgeliefert fühlen, sondern verbunden bleiben mit der Musik, den Mitmusiker:innen und dem Publikum. So komme die Freude an der Musik langsam zurück – das merke man nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Publikum.

 

Ausfallen? Finanziell untragbar

Was aberpassiert, wenn eine Musikschaffende merkt, dass es einfach nicht mehr geht? Wenn der Alltag nicht mehr bewältigt werden kann? «Die Hälfte der Musikschaffenden lebt am Existenzmininum», sagt Etrit Hasler, Geschäftsführer des Dachverbands Suisseculture Sociale. Wenn diese Menschen aus physischen oder psychischen Gründen ausfallen, habe das mitunter gravierende Konsequenzen (Katastrophe dünkt mich etwas sehr drastisch, oder was meinst du?) – denn oft würden sie dann nicht nur kurz-, sondern auch längerfristig nicht mehr gebucht. «Bei jemanden, der in der Verwaltung arbeitet, ist das anders. Der wird sechs Monate nach einem Burnout wieder reintegriert.» 

 

Suisseculture Sociale kann in solchen Fällen bis zu 5000 Franken als sofortige Nothilfe auszahlen – ein Betrag, mit dem Musiker:innen zwei oder drei Monate überbrücken können. Rund 80 bis 100 Menschen schreiben jährlich ein entsprechendes Gesuch, Tendenz stark steigend. «Das sind tragische Einzelschicksale und häufig ohne Perspektive zur Besserung», sagt Hasler. Leider würden sich viele erst anmelden, wenn es schon zu spät ist. Dann bleibe ort nur noch die Sozialhilfe als Auffangnetz übrig, was gerade für jüngere Kulturschaffende bedeute, dass sie gezwungen seien, einen «bürgerlichen» Beruf aufzunehmen.

 

«Es ist verrückt», meint Etrit Hasler, der einer der Pioniere der Schweizer Poetry-Slam-Szene war, «Kunst im Allgemeinen –  und in der Musik gilt das doppelt und dreifach – ist eine Branche, die mit Illusionen hantiert. Jede Generation überzeugt die nächste davon, dass es das Geilste ist, was es gibt. Ich bin selber ja auch darauf reingefallen.»

 

Heute muss man alles sein

Gerade für Musiker:innen, die sich in kommerziellen Nischen bewegen, sind die Herausforderungen des musikalischen Alltags in den letzten Jahren gestiegen. Sie müssen eine Präsenz auf mehreren Kanälen aufbauen, mit finanzieller Unsicherheit umgehen, mit Streaming und AI, sie müssen Tourneen selber buchen und Verantwortung übernehmen für Mitmusiker:innen, ihre Musik selber produzieren, aufnehmen und mischen lernen – und damit ist noch keine einzige Note geübt, kein einziger neuer Song geschrieben. «Es findet eine Uberisierung der Musikszene statt», bestätigt Xavier Dayer, Departementsleiter Musik an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). «Man muss heute alles sein: exzellent in seinem Fach, exzellent in der Kommunikation und in der Organisation. Das Burnout-Risiko ist gross.» 

 

Drei kürzlich veröffentlichte Pilotstudien der Hochschule Luzern mit Kooperationspartnern aus Grossbritannien ergaben, dass das Wohlbefinden von Musik-Studierenden aus allen Fachbereichen signifikant schlechter ist als das Wohlbefinden der restlichen Bevölkerung. Schon Erstsemestrige berichteten von physischen und psychischen Schwierigkeiten. 

 

Das Thema beschäftigt auch die Konferenz der Schweizer Musikhochschulen, der Xavier Dayer als Vertreter der ZHdK angehört. «Die Studierenden werden deshalb an allen Hochschulen immer besser begleitet», sagt er. «Wir möchten die Studierenden unterstützen und auf den Beruf vorbereiten.» In Zürich sieht er beispielsweise im neu eingeführten Major-Minor-Modell grosses Potential. Es ermöglicht Studierenden, nebst den Hauptfächern auch ein frei wählbares Nebenfach aus anderen Departementen zu belegen, so dass sie sich beruflich breiter aufstellen können. 

 

Zudem können Studierende an der ZHdK mehrere kostenlose Therapiesitzungen in Anspruch nehmen – ein Angebot in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Institut für Angewandte Psychologie und dem Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung. Johanna Jellici, Gesamtleiterin des Bereichs Jazz und Pop der ZHdK, stellt fest, dass es den Studierenden seit der Pandemie eher wieder besser gehe. Dennoch: «Wir sehen, dass der Zeitgeist und die Weltlage einen erheblichen Einfluss auf unsere Studierenden haben.»

 

Schreib dich frei, spiel dich frei

Der Beruf der Musikerin hat also Schattenseiten – das Musikbusiness verlangt immer mehr. Krank werden oder ausfallen ist schwierig bis unmöglich. Der Druck ist hoch, die Weltlage verunsichert. Doch worin könnte die Lösung liegen? Wenn Musik Menschen grundsätzlich glücklich macht, wie können auch professionelle Musikschaffende zu diesem Glück (zurück)finden? 

 

Lukasz Polowcyk, der heute mit seiner Familie in Berlin lebt, hat für sich eine Lösung gefunden: «Let that ink flow», nennt er sie, «Stream-of-consciousness-writing», oder freies Schreiben, kombiniert mit viel physischer Aktivität (Sport?) und Meditation. Täglich nimmt er sich bewusst Zeit zum Schreiben, verarbeitet so seinen Alltag und findet gleichzeitig Ideen für seine Kunst. Seit einigen Jahren gibt er dies auch andere Musikschaffende weiter – im Rahmen von mehrstündigen oder mehrwöchigen Kursen. 

 

Die Teilnehmenden fühlten sich vielleicht innerlich blockiert oder kämen bei einem Album nicht mehr weiter, sagt er. Das freie Schreiben sei für sie ein sicherer Raum, in dem nie etwas falsch sei, in dem sie nichts verlieren könnten. Und oft seien es die einzigen stillen, unabgelenkten Momente des Tages, in denen plötzlich neue Ideen auftauchten, oder Dinge, die vergraben oder vergessen waren – ein Raum für die Kunst, ohne Social Media, ohne Druck. «Man ist umso kreativer, je losgelöster man sich vom Markt bewegen kann» sagt Lukasz Polowczyk. 

 

Klar, das Problem, dass Musikschaffenden sich und ihr Werk verkaufen müssen, werde dadurch nicht gelöst, «das wird sich für immer in den Schwanz beissen.» Aberwer sich bewusst Zeit nehme fürs Schreiben und fürs Musikmachen der sei allgemein freier. Und das gelte nicht nur für professionelle Musiker:innen. „Man fängt wieder an, richtig Spass an der Musik zu haben“, sagt Lukasz. „Und zu erleben, dass es anderen auch so geht, macht wirklich glücklich.“ 

 

Wie ist es denn nun – ist Musik(machen) eine Last oder eine Ressource? Diskutiere mit an den Jazzgesprächen vom 24. Mai. 

 

Dieser Text erschien in der Programmzeitung des Schaffhauser Jazzfestivals 2025.