Wie können wir als Musiker:innen einen aktiven Beitrag zu grossen Themen wie der Klimakrise leisten? Gespräche mit Jazzmusiker:innen, Künstler:innen und Wissenschaftler:innen zeigen auf, wie breit das Spektrum an Handlungsmöglichkeiten ist – ganz ohne Holzhammer.
Dieser Text erschien in der Programmzeitung Jazzfestival Schaffhausen als Beilage der WOZ im Mai 2023
«Wir können sehen, dass der Meeresspiegel steigt», erzählt mir Aya Tarek. „Die Menschen hier sind vom Klimawandel betroffen.» Seit Jahren erschafft die ägyptische Künstlerin öffentliche Kunst, ihr letztes grosses Werk «Waking the Giants» wurde während dem Klimagipfel COP27 in Kairo gezeigt. Auf drei riesigen Leinwänden präsentierte sie ihre künstlerische Umsetzung wissenschaftlicher Daten zum Klimawandel, begleitet von einer Live-Performance des Schweizer Posaunisten und Klangkünstlers Simon Petermann, der seine Kompositionen ebenfalls auf wissenschaftlichen Datensätzen aufbaute. «Die Menschen hier in Ägypten lassen sich von Kunst stark berühren», sagt sie. «Und als Künstlerin habe ich die Möglichkeit, Informationen so zu übersetzen, dass sie zugänglich und verständlich werden. Das ist meine Aufgabe.»
Einige Tage nach dem Gespräch mit Aya Tarek finde ich auf der Website des Beratungsinstituts MyClimate Schweiz den Satz «Man kann in jedem Beruf etwas fürs Klima tun.»
Ich frage nach und spreche mit Irina Ignat, die bei MyClimate arbeitet, früher aber auch für ein Orchester tätig war. «Es braucht den Funken, die Motivation jedes und jeder Einzelnen», sagt sie. «Es ist ein so dringendes Thema, dass man es auf allen Ebenen angehen sollte – mit Kunst könnte das sehr inspirierend sein.» Ähnlich sieht das auch der Klimawissenschaftler Christoph Marty vom WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos: «Wir sind froh, wenn nicht nur wir Wissenschaftler:innen die Infos vermitteln müssen. Die Macht der Bilder kennt man ja bereits. Wenn nun noch der Audiobereich dazukommt … vielleicht ist es die Kombination, die es ausmacht.»
Wortlose Superpower
Als ich den Jazzbassisten John Patitucci an einem seiner seltenen freien Tage zwischen zwei Tourneen erreiche, sagt er: «Musik hat die Macht, Menschen zu verändern – in einer Art, wie es Worte niemals könnten» Er sagt, er erlebe Musik als spirituelle, lebensverändernde Kraft, nicht nur auf der Bühne, sondern auch in seiner Arbeit mit der Danilo Pérez Foundation für benachteiligte Jugendliche in Panama. Bald wird seine Suite «Planet in Peril» für Jazzquartett und Orchester erstmals aufgeführt. «Ich bin als Komponist viel besser mit Klängen als mit Worten», ergänzt er. «Das ist es, was ich tun kann. Ich möchte mit meiner Musik Menschen ermutigen, über Dinge nachzudenken und sie zu verändern.»
Dass dies tatsächlich funktionieren kann, ist nicht nur ein Gefühl – es ist wissenschaftlich erwiesen. Musik berührt Menschen, sowohl wenn sie zuhören als auch wenn sie sie selber spielen, sie kann Emotionen auslösen und regulieren und das Wohlbefinden stärken. Sie formt invidividuelle und kollektive Identitäten, sie stärkt Beziehungen und kann Empathie fördern. All diese Aussagen belegt etwa die Musikpsychologin Dr. Helen Prior von der University of Hull in ihrem Paper «How can music help us to address the climate crisis?» mit Verweisen auf entsprechende Studien. Wer sich mit Musik beschäftigt – ob beruflich oder in der Freizeit – hat also ganz objektiv eine Superpower in der Hand.
Aber was heisst das nun? Wie können wir Musikschaffenden mit unserem Beruf einen konkreten Beitrag leisten? Gerade hier, in der Schweiz,? Dieser Frage möchte ich in den Schaffhauser Jazzgesprächen nachgehen, die am 13. Mai 2023 im Kammgarn stattfinden – mit zahlreichen Referent:innen, die hier im Text zu Wort kommen. Bei meiner Recherche habe ich schnell gemerkt, dass das Spektrum an Handlungsmöglichkeiten riesig ist. Und sehr inspirierend. Keinesfall geht es darum, dass wir in Zukunft nur noch apokalyptische Doomsday-Musik schreiben sollen, oder dass Konzerte in Zukunft alle genau gleich klingen werden. Im Gegenteil! Da eröffnet sich eine neue Welt.
Wie kann man grün touren?
Am einen Ende des Spektrums findet sich all das, was man ganz leise tun kann – zum Beispiel Organisationen unterstützen, über Gerechtigkeit und Konsum nachdenken und danach handeln. Dann wird es langsam lauter. Man kann demonstriert oder seine Plattform auf Social Media und anderswo nutzen, um aufzuklären. Wie etwa schafft man es, wenig oder gar nicht mehr fliegen? Antworten auf solche Fragen bietet das «Green Manifesto» des European Jazz Network. Aber auch die Kuratierung bietet Möglichkeiten, etwas für die Umwelt zu tun. «Wir können nicht weiterfahren wie früher», sagt mir zum Beispiel Christoph Müller, künstlerischer Leiter des Gstaad Menuhin Festivals. «Wir müssen und wollen als Festival auf die grossen gesellschaftlichen Themen reagieren.» Während das Festival früher unverfänglichen Themen wie bestimmten Städten oder Komponist:innen gewidmet war, steht es dieses Jahr unter dem Motto «Demut». Gemeint ist vor allem die Demut gegenüber der Natur. Das Festival hat der Violonistin Patricia Kopatchinskaja eine Carte Blanche für drei Konzerte zur Klimakrise gegeben.
Weiter geht es im Spektrum mit Projekten, die sich inhaltlich mit der Klimakrise beschäftigen. Der Schweizer Pianist und Klangforscher Ramon Landolt (bekannt unter anderem als Bandmitglied von Trio Heinz Herbert) steht seit rund drei Jahren regelmässig auf Schweizer Gletschern, nimmt die Schmelzprozesse des Eises mit Mikrophonen auf und bearbeitet diese dann kompositorisch weiter. Sein Projekt heisst «Iced Sound» und wurde bisher als audiovisuelle Performance sowie auch als Klanginstallation in Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro rotative studio in Zürich gezeigt. «Ich hoffe, dass die Klänge einen neuen und emotionalen Zugang schaffen für diese fragile Welt, die so weit weg ist von unserer unmittelbarer Wahrnehmung», sagt er. Auch die Schlagzeugstudentin Athina Dill und die Kompositionsstudentin Sonia Loenne schrieben Musik für und über die verschwindenden Gletscher.«Sie sind uns emotional halt so nah», sagt Athina. «Die schönen Gletscher in den schönen Bergen.» Dass solche Projekte eine Wirkung haben können, bestätigt Britta Sweers, Musikethnologin an der Universität Bern. «Wenn Menschen die Geräusche eines Ortes kennen, jeden Klang in den Ohren haben, womöglich noch ein Volkslied dazu, fühlen sie sich zugehörig», sagt sie. «Aus solchen positiven Emotionen kann ein Verantwortungsgefühl entstehen, und man fängt an, sich dafür einzusetzen.»
Der Künstler Mihayo Kallaye aus Tansania hat einen Abschluss in Umweltwissenschaften. Das Studium hat ihm Informationen geliefert, die den Menschen im Slum in Daressalaam, wo er aufwuchs, oft fehlen – dass Dürrephasen oder Fluten mit dem Klimawandel zusammenhängen zum Beispiel. Für seine visuellen und auditiven Collagen verwendet Kallaye deshalb bewusst Materialien aus dem Alltag und versucht so, möglichst zugänglich Informationen weiterzugeben. «Ich glaube an die Gemeinschaft», sagt er. «Ich selber kann die Welt nicht verändern, aber durch meine Arbeit kann ich eine Diskussion auslösen, und daraus kann etwas entstehen, was die Welt verändern könnte.» Auch die Berner Gitarrenstudentin Ti Kuhn möchte informieren. Sie hat sich für ihr Bachelorkonzert im Juni 2023 für das Thema «Deep Water Horizon» entschieden. Die Ölkatastrophe vor dem Golf von Mexiko liegt zwar schon ein paar Jahre zurück, aber genau dies gab für Ti den Ausschlag. Die Katastrophe ist heute sehr gut dokumentiert und wissenschaftlich aufbereitet. «Ich möchte zwar, dass die Leute mein Projekt auf einer musikalischen Ebene geniessen können. Aber ich möchte auch, dass es einen informativen, politischen Wert hat.»
Hörbare Daten
Noch nie standen der Menschheit so viele Daten zur Verfügung wie heute. Es liegt also auf der Hand, sie auch künstlerisch zu nutzen wie jedes andere Rohmaterial. Man kann Daten zum Beispiel sonifizieren, was bedeutet, dass Datenwerte direkt in musikalische Parameter wie Tonhöhe oder Lautstärke umgesetzt werden. Daraus kann wunderbare Musik entstehen, wie zum Beispiel das Stück «Arctic Sea Ice» für Klavier der Klimawissenschaftlerin und Geräuschkünstlerin (Klangkünstlerin ist besser) Judy Twedt aus Washington, das Daten zu schmelzendem Eis in der Arktis ein musikalisches Gesicht gibt. Twedt möchte mit ihrer Arbeit Daten über den Klimawandel einen emotionalen Raum geben. «Wir haben viel zu viele Informationen, sie überwältigen und verängstigen uns», sagt sie. «Musik verbindet – sie erlaubt es uns, miteinander, mit der Welt, mit den Daten in Beziehung zu treten.» Das gleiche Ziel setzt sich auch das ClimateMusic Project aus San Francisco. Die Co-Initiantin Fran Schulberg sagt: «Wir erleben, dass Wissenschaftler:innen verzweifelt nach Wegen suchen, Klimadaten ausserhalb ihrer eigenen Communities an die Öffentlichkeit zu bringen.». ClimateMusic bringt Musiker:innen und Wissenschaftler:innen zusammen und organisiert Performances mit Konzert- und Informationsanteil, mit dem expliziten Ziel, das Publikum zum Handeln zu inspirieren. «Es besteht kein Zweifel daran, dass Musik in sozialen Bewegungen einen Einfluss hat», sagt Schulberg.
Längst befinden wir uns am alles andere als leisen Ende des Spektrums. Der Saxophonstudent Raphael Skoda beschäftigt sich in seiner interdisziplinären Projektarbeit, Teil des Masterstudiengangs am Jazzcampus Basel, gerade mit Biodiversität und Daten aus dem TreeNet, einer Datensammlung über Bäume und Waldökosysteme in der Schweiz. Diese sonifiziert er und kombiniert sie zusammen mit Field Recordings (das sind Aufnahmen, die man in der freien Natur macht) zu einem künstlerischen Projekt. «Die Grenze von Sound zu Musik ist manchmal schwimmend», sagt er. Und genau das sei interessant. Für Gregor Hilbe, der die Projektarbeit als Experte betreut, liegt der Schlüssel zum Dasein als Musiker:in: darin, sich künstlerisch ständig weiterzuentwickeln, nach Sounds zu suchen, akustisch wie elektronisch. Auch visuelle Elemente einzubinden, interdisziplinär zu arbeiten. «All das ist vor unseren Füssen ausgelegt», sagt er. «Es wäre schade, wenn wir das nicht nutzen würden.»
Doch wie steht es mit der zweiten grossen Frage – ob die Ausgangslage für Musiker:innen in der Schweiz anders ist als anderswo? Wenn man sich und sein Schaffen in der Welt verorte, werde es sehr schnell politisch, meint der Luzerner Noah Arnold, Saxophonist unter anderem bei der Band sc’ööf. Er selber stellte sich nach seinem Studium immer stärker die Frage, was seine Musik in der Gesellschaft überhaupt bedeuten könnte, und studierte auf Anraten eines Kollegen bei Greenpeace auch noch Menschenrechte an der Universität Wien. Dank dem Studium entdeckte er in seinem Schaffen und der Musik im Allgemeinen neue Potenziale. Seit einigen Jahren gibt er an verschiedenen Universitäten Kurse zu Musik und Menschenrechten, unter anderem zur Rolle von Musik in sozialen Bewegungen. Er wird an den Jazzgesprächen einige Beispiele vorstellen. (Gibt es nicht noch eine Kernaussage von Arnold? Du hast ihn ja eigentlich erst eingeführt.)
Ich frage die ägyptische Künstlerin Aya Tarek, welchen Rat sie uns in der Schweiz im Hinblick auf unsere privilegierte Situation geben würde, und sie antwortet: «Wir sollten einfach miteinander sprechen. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir Diskussionen auslösen. So können wir alle etwas lernen – über andere Menschen, andere Orte, und wie die Dinge dort funktionieren.»
Der Zauber des Zähneausbeissens
Aus meiner Recherche und den vielen Gesprächen nehme ich zwei Dinge mit. Erstens: Wir sollten immer tief schürfen. Wir sollten uns den grossen Fragen stellen, uns informieren über Klimagerechtigkeit und unseren Status in der Welt. Zweitens: Wir sollten Neues ausprobieren, uns Partner:innen suchen, aus anderen Kunstsparten, aus dem Globalen Süden, aus anderen Berufen, Generationen oder Filterblasen, uns inspirieren lassen von Bildern, Texten, Videos, Volksliedern und von der Wissenschaft – denn dies wird nicht nur uns ganz persönlich, sondern auch die Musik weiterbringen. Sich an all diesen Dingen künstlerisch so richtig die Zähne auszubeissen – darin liegt doch sowieso ein grosser Teil des Zaubers, nicht?