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Zwischen Leadsheet und Schlaflied

Jazz spielen, Geld verdienen und Kinder kriegen – yes, please! Viele Schweizer Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker sind in den letzten Jahren Eltern geworden. Sie erzählen von ihrem vollbepackten Alltag. Und sie preisen die unerwarteten Vorteile, die das Windelwechseln für das Musizieren mit sich bringt

 

«Hast du Lust, für uns ein bisschen Tagebuch zu führen?», fragt mich Daniel Fleischmann, Redaktor dieser Programmzeitung. «Du könntest von deiner musikalischen Arbeit erzählen, und davon, wie du Familie und Beruf unter einen Hut bringst!» Sehr gern, sage ich, obwohl ich gerade gegen alle Regeln verstosse, das Handy am Ohr, den Buggy mit dem schlafenden Kind umständlich mit einer Hand über einen Fussgängerstreifen schiebend. Ich verspreche ihm einen ehrlichen Einblick (quod erat demonstrandum). Und beschliesse gleichzeitig, auch ein paar andere Musikerinnen und Musiker zu Wort kommen zu lassen. 

 

Making Whoopee

That’s what you get, folks! Für mich und viele andere in meinem Alter gehört die Familiengründung zum Lebenskonzept. Sie ist «essenziell», wie es Saxophonist Cédric Gschwind ausdrückt. Obwohl man im Planungsstadium noch überhaupt nicht weiss, was das heisst. Und dann quasi zeitgleich mit dem Kind so richtig auf die Welt kommt.

 

A Child Is Born

Tag 1

5.50 Tagwache, um 6.01 sitze ich am Computer und arbeite an einer Partitur, bis die Kids aufstehen. Eine Stunde später essen wir alle gemeinsam Zmorge, dann bin ich unterwegs, heute ist einer meiner drei offiziellen Arbeitstage. Die Kinder sind schon im Bett, als ich zurück bin. Ich habe im Bus gegessen und arbeite deshalb gleich weiter. Die To-Do-Liste ist lang. Als Erstes schicke ich die Familienbewerbung für eine Artist Residency im Burgund ab (wichtig, nicht dringend), setze mich eine Stunde ans Klavier (immer wichtig, immer dringend) und schaue auf YouTube ein Partiturvideo der vierten Mahler-Symphonie (dito). Um 21.15 mache ich Schluss. Mein Mann erzählt, dass eines der Kinder erkältet ist. Wir besprechen, wer es wann übernimmt, falls es morgen nicht in die Kita gehen kann. 

 

Wir Musikerinnen und Musiker mit Kindern bewegen uns alle zwischen Selbstständigkeit und Angestelltenverhältnis, zwischen Passion und Lohn, zwischen Puppen und Autöli, Instrument und Laptop, Kita und Grosseltern, alles genau austariert. Ich selber teile meine Zeit zwischen Musik und Texten und zwei kleinen Kindern auf. Es ist streng, ohne Zweifel. Alle, die ich befrage, arbeiten ebenfalls hohe Pensen. «Meine Partnerin und ich durchlaufen momentan die bisher kräftezehrendste Phase unseres Lebens», sagt Bassist und Musikschulleiter Kaspar von Grünigen. Cédric Gschwind wünscht sich, er käme mit zwei Stunden Schlaf aus. Das wären 25 Stunden mehr pro Woche – mehr Familienzeit, mehr üben, mehr schreiben, mehr Konzerte, mehr ungestört Kaffee trinken. If only …

 

Lady Sings The Blues (… and the man does, too)

Tag 2, Morgen

Das Kind hat Schnuderi, ist aber fidel, kann also in die Kita. Ich liefere es ab und arbeite dann an abzuliefernden Texten. Dazu läuft wieder die Mahler-Symphonie, und später auch ein Boyz II Men-Medley (ich geb’s ehrlich zu). Um 12 mache ich zehn Minuten Pause. Um 14 klingelt das Handy - die Kita. Das Kind hat jetzt doch Fieber. Komme sofort, sage ich, und klappe meinen Laptop schnell zu, um keine Gedanken daran zu verschwenden, wann ich die Kundenaufträge, zwei ausstehende Dossiers für Musikprojekte, die angefangenen Stücke nun fertig machen kann.

 

Wenn in Kita und Kindergarten etwas ist, werde ich konsequent als Erste angerufen. Schliesslich bin ich ja das Mami! Böse gemeint ist das nicht, macht aber in unserem Fall wenig Sinn, schliesslich betreut der Papi (Saxophonist Matthias Kohler) die Kinder fast gleich viel wie ich. Dass die Rollen in der Schweiz immer noch so klar verteilt sind, stört mich sehr. Beim Mutterschaftsurlaub fängt es an. Warum gibt’s nur für die Mütter Urlaub? Und was bedeutet die Pause für die berufliche Karriere? Den Satz «die hat sicher keine Zeit, die hat doch jetzt ein Kind», habe ich zigmal gehört. Meine Umfrage zeigt, dass sich Musikerinnen unter anderem aus diesem Grund wahre Kraftakte abringen, wenn sie das Glück haben, dass der Partner ebenfalls selbstständig ist und die Familie sich Erwerbsausfälle leisten kann. Sängerin Julie Fahrer absolvierte eine zehntägige Tournee, als ihr Kind acht Wochen alt war. Ihr Mann, Pianist Sebastian Hirsig, betreute das Baby, während sie auf der Bühne stand. «Wir haben als Team fantastisch funktioniert», sagt sie. «Aber die Erschöpfung war gross.» Auch Komponistin Luzia von Wyl spielte wenige Wochen nach der Geburt Konzerte. Sängerin Neele Pfleiderer aus Freiburg im Breisgau und ihr Partner profitierten vom deutschen Modell der Elternzeit. «Ich habe sie als grosse Unterstützung erlebt», sagt sie. «Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das gehen soll ohne den Vater zuhause in der ersten Zeit!» Autsch. Auch Gregor Hilbe, Schlagzeuger und Leiter der Abteilung Jazz und Pop an der Zürcher Hochschule der Künste, findet die Situation in der Schweiz «enorm altmodisch». Kaspar von Grünigen bringt es so auf den Punkt: «Die Schweiz muss endlich aus dem Quark kommen und aus dem konservativen Rollenmodell ausbrechen.»

 

Passion Dance

Tag 2, Nachmittag

In der Kita nehme ich das Kind in den Arm. Alles rückt in den Hintergrund, schnöder Mammon, hehre Kunst, das kann ich alles organisieren, was jetzt zählt, ist Trost spenden. Als wir zuhause sind, zeigt mein Mann dem Kind die Querflöte und spielt etwas vor, wie der Rattenfänger von Hameln, nur in Bern und mit Jazz. Das Kind freut sich. Das Fieber geht runter. Am Abend schläft es schnell ein. Wir arbeiten beide noch etwa zwei Stunden, ich übe und schreibe ein paar Takte Musik, wie immer eine chaotische Krakelei, von Hand gemalte Notenlinien, mit Pfeilen und Kästchen und Voicings mit Fragezeichen. Ich schreibe einfach auf, was ich höre, und versuche dabei noch nicht einzugreifen, weder motivisch noch architektonisch. Das ergibt zunächst mal einen ziemlich formlosen Schnipsel, mit dem es vielleicht weitergeht, und vielleicht auch nicht.

 

Wer Kinder hat, wird effizienter. Ernsthaft! In den letzten Jahren habe ich musikalisch viel mehr zustande gebracht als früher, selbst wenn die Zeit knapper ist. Ich habe gelernt, innert Sekunden gedanklich zwischen Gutenachtsagen und Tastatur hin und her zu wechseln. Das sprechen auch die anderen an, ohne dass ich spezifisch danach frage. «Ich empfinde mein Üben als deutlich effektiver», sagt Neele Pfleiderer. «Ich bin massiv effizienter geworden», bestätigt Schlagzeuger Christoph Steiner. «Es ist einerseits stressig, andererseits bin ich viel speditiver als früher», sagt auch Saxophonist Marc Stucki. Unausgesprochen bleibt dabei die Selbstdisziplin, die aber wohl zum Musikmachen dazu gehört, Kinder hin oder her. «Ich finde vor allem das häufige nächtliche Aufstehen happig», sagt Luzia von Wyl. Aber trotz Schlafmangel nutzt sie die Abende häufig zum Arbeiten, statt früh ins Bett zu gehen. «Man muss es einfach sooo sehr wollen, Musik zu machen, und dann geht es», sagt sie.

 

You And The Night And The Music

Tag 3

Die Kita fällt aus wegen krank. Der Kindergarten fällt aus wegen Lehrerkonferenz. Also fällt auch der Arbeitstag aus. Wir teilen uns auf. Ich fange mit Textarbeit an, aber dann drängt sich die kleine musikalische Idee von gestern auf, und ich ergänze sie mit einer möglichen Weiterführung. Am Mittag übernehme ich die Kinder. Wir machen einen Spaziergang, ein Kind schläft, das andere erzählt mir eine komplexe Geschichte mit Einhörnern und Prinzessinnen. Am Abend arbeite ich an meiner Idee vom Morgen weiter, und höre später noch ein bisschen Musik. Billie Eilish und koffee und Julian Lage und The Strokes und ein Chopin-Prélude. So eklektisch wie mein Tag.

 

«Ich erlebe viele entspannte Momente, wenn ich mit den Kindern spiele», sagt Luzia von Wyl. «Dann ist die Arbeit plötzlich sehr weit weg.» Noch so ein Vorteil dieser Lebensphase. Das Hirn schiebt die Notenkritzelei in den Hintergrund, wenn man sich fragen muss, wo man den Elsa-Film herbekommt. Oder: woraus das vom Kindergarten geforderte «gesunde Geburtstagsznüni» bestehen könnte. Oder: ob sich schon jemand überlegt hat, haut- und parkettfarbene Tomaten zu züchten, damit die Sauerei beim Lieblingsessen kleiner wird. Man widmet sich diesen oft genug skurrilen Fragen des Alltags, und holt Kompositionen und Projekteingaben später mit frischem Blick hervor.

 

Come Rain Or Come Shine. Oder: If I should lose you

Tag 4 bis 21

Die Kinder sind wochenlang abwechselnd krank. Die Arbeitstage finden fast ausschliesslich frühmorgens und abends statt, tagsüber teilen wir uns auf, so gut es geht. Manchmal geht es nur mit schlafendem Kind in der Trage am Laptop oder am Klavier. Wir arbeiten nur das Nötigste – die künstlerische Arbeit muss kürzertreten. Unsere physischen und psychischen Grenzen werden am Horizont langsam sichtbar. Ich sehne mich nach Pausen. Versuche aber trotzdem oft, mich am Klavier mit einem Stück Musik auseinanderzusetzen, und sei es nur eine halbe Stunde, weil das die Batterien einfach besser auflädt als Netflix. Zum Glück fallen in diese Zeit auch ein paar gute Nachrichten. Wir können im Sommer ins Künstlerhaus im Burgund. Und ein Stück von mir soll bald in London gespielt werden. 

 

Klar, manchmal geht es ans Eingemachte. Aber mir ist bewusst, wie privilegiert ich bin. Die Familie hat in meinem Alltag genauso Platz wie ein interessantes Berufsportfolio, zu dem die Musik als finanziell nicht sehr einträgliches Standbein gehört. Da habe ich als Schweizerin dann wiederum gewichtige Standortvorteile. «Wir haben es hier leichter als anderswo», findet auch Cédric Gschwind. Klar ist zudem, dass es ohne Grandmaman und Grandpapa (in unserem Fall), nicht ginge. Bei fast allen Kolleginnen und Kollegen leisten die Grosseltern bei unregelmässigen Arbeitszeiten, Proben, Konzerten einen grossen Einsatz. «Die Kita-Öffnungszeiten bringen uns leider nicht viel», sagt zum Beispiel Sängerin Nina Gutknecht. Und das Kleeblatt komplett macht dann eine gleichberechtigte Partnerschaft. «Wir versuchen uns gegenseitig alles zu ermöglichen, was als sinn- und lustvoll empfunden wird», so drückt es mein Mann Matthias Kohler aus. Auch Christoph Steiner schätzt es sehr, dass er und seine Partnerin sich gegenseitig unterstützen und sich über die Erfolge des anderen freuen. Mit solch positiven Voraussetzungen lässt es sich natürlich sehr gut leben. For now and ever more … that’s all!

 

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Der Text erschien in der Programmzeitung des Schaffhauser Jazzfestivals 2020